Chronischer Pruritus: „Viele Patienten haben die Erfahrung ­gemacht, dass sie selbst von Ärzten nicht ernst genommen werden.“

Juckreiz oder Pruritus bezeichnet eine Missempfindung der Haut, die durch ­verschiedene Faktoren ausgelöst werden kann. Akuter Juckreiz ist oft eine ­normale (Warn-) Reaktion der Haut auf spezifische Reize und kann in der Regel leicht ­behandelt werden. Chronischer Juckreiz hingegen ist ein Symptom, das über sechs Wochen anhält. Diese juckende Haut kann jedoch weitreichende Folgen für die ­Patientinnen und Patienten haben. Zur physischen und psychischen Versorgung von Pruritus mithilfe ­aktueller Erkenntnisse und Therapien hat Merle Twesten ­nachgefragt bei PD Dr. Athanasios Tsianakas, Bad Bentheim.

Zitierweise: HAUT 2023;34(5):198-199.

Juckreiz scheint so alltäglich und banal zu sein. Als Alarmsignal ist er ja erstmal auch etwas Gutes. Wann verliert der Juckreiz diese Warn­funktion und wird zum Problem?

Dr. Tsianakas: Das typische Alarmsignal ist der akute Juckreiz. Dieser kann durch verschiedenste Einflüsse ausgelöst werden: Parasitenbefall, einen Mückenstich, aber es gibt auch Erkrankungen, die zu Juckreiz führen können. Das ist letztendlich eine Warnfunktion des Körpers, womit er uns signalisiert: „Irgendetwas stimmt hier nicht!“ Generell sagt man: Wenn der akute Juckreiz zum chronischen Juckreiz wird, das ist ab Woche 6, dann hat sich dieses akute Alarmsignal sozusagen ausgelebt. Dann ist das kein akuter Alarm mehr, sondern man muss schauen, was eigentlich dahintersteckt.

Was wissen wir heute, was sind die möglichen Ursachen von Pruritus?

Dr. Tsianakas: Grundsätzlich kann man sagen, dass die Ursachen sehr breit gefächert sind. Man schaut also: Gibt es eine Nieren- oder Schilddrüsenerkrankung, vielleicht eine chronische Hepatitis? Auch Leukämien oder Lymphome können einen chronischen Juckreiz auslösen, ebenso wie viele entzündliche Hauterkrankungen. Der Klassiker ist das atopische Ekzem. Aber es gibt auch andere chronisch juckende Dermatosen, die Knötchenflechte beispielsweise, oder blasenbildende Autoimmundermatosen, die oft gern mit Juckreiz starten. Ein weiterer weit verbreiteter Auslöser ist Diabetes. Darüber hinaus gibt es psychische Erkrankungen wie Depression oder Schizophrenie, die ebenfalls mit Juckreiz einhergehen können. Das klopfen wir alles systematisch ab, wenn wir Patienten mit chronischem Juckreiz vor uns haben.

Allein aufgrund der vielen möglichen Ursachen gibt es für Menschen mit chronischem Pruritus keine allgemeingültige, einheitliche Therapie. Wie kommen Sie auf die richtige Idee, dass z. B. ein eingeklemmter Nerv der Grund für den chronischen Juckreiz ist?

Dr. Tsianakas: Ursachenbekämpfung steht an erster Stelle. Das ist erstmal das Wichtigste, finde ich. Leitliniengetreu nehmen wir eine komplette Untersuchung des Patienten vor, um Ursachen zu finden oder auszuschließen. Es wird untersucht, ob der Patient verschiedene Erkrankungen hat, auf die ich vorhin schon eingegangen bin; auch auf Eisenmangel und Anämien wird der Patient untersucht. Wir untersuchen das Blut und führen Probebiopsien durch, um zugrunde liegende Haut­erkrankungen ausschließen zu können. Einen Immunfluoreszenztest führen wir ebenfalls durch, um blasenbildende Haut­erkrankungen auszuschließen. Es wird also sehr breit nachgeschaut.

Schnell wird aus dem ­chronischen Juck-Problem ja auch ein ­chronisches Kratz-Problem. Was sind die Folgen dieses ­Teufelskreises?

Dr. Tsianakas: Die Patienten befinden sich in einem sogenannten Juckreiz-Kratz-Teufelskreis. Durch Schmerzanwendung schaffen sie es kurzfristig, den Juckreiz zu betäuben oder auszuschalten. Aber er kommt mit voller Heftigkeit wieder zurück. Patienten fügen sich also absichtlich Schmerzen und Wunden zu und attackieren mit verschiedenen Instrumenten ihre Haut. Teilweise ist es entstellend, was die Patienten mit ihrer Haut anrichten, nur um das Jucken zu unterbinden. Gerade an sichtbaren Arealen ist das eine wahnsinnig große zusätzliche psychische Belastung, weil das oft zu Stigmatisierungen führt. Wir arbeiten daher sehr viel mit Psychologen zusammen, auch hier in der Klinik mit einer großen Reha-Einheit.

Nun kann man sich das Kratzen nicht abgewöhnen. Was macht das mit einem Menschen auf Dauer auch auf psychischer Seite?

Dr. Tsianakas: Die Folge des chronischen Juckreizes hat eine ausgeprägte psychische Komponente und ist nicht nur einfach ein banales Symptom. Stellen Sie sich vor, Sie müssen sich ständig kratzen, beim Einschlafen, bei der Arbeit; das führt zu Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und durch die Mitmenschen zu der erwähnten Stigmatisierung. Das ist auch der Grund, weshalb sich die Patienten zunehmend isolieren und sozial, familiär und beruflich Schwierigkeiten haben. Die Patienten sind wesensverändert – ein einziger Hilfeschrei. Wenn man einen chronischen Juckreiz über Monate und Jahre hat, hinterlässt das Spuren. Bei dem Thema Stigmatisierung ist sicherlich noch viel Arbeit zu leisten, aber es gibt gerade in Deutschland eine sehr engagierte Expertengruppe, die sich dem Thema super angenommen hat. Und wenn ich vergleiche, was vor fünf, vor zehn Jahren an Wissen vorhanden war, an Awareness für die Erkrankungen: Da hat sich doch schon einiges getan.

Sie sprachen bereits die Isolierung an, die sicherlich mit einer gewissen Verschlossenheit einhergeht – auch gegenüber dem Arzt.

Dr. Tsianakas: Viele Patienten haben auch schlicht die Erfahrung gemacht, dass sie selbst von Ärzten einfach nicht ernst genommen werden. Sie klagen über das Symptom des chronischen Pruritus, teilweise wird dann nur symptomatisch reagiert, sprich lokal Steroide angewandt, vielleicht mal Antihistaminika und das war es dann. Das sind eben Therapien, die auf lange Sicht oft nicht ausreichend und erfolgversprechend sind. Das frustriert die Patienten und sie geben dann auf.

Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 20 % der Erwachsenen in Deutschland unter chronischem Juckreiz leiden. Jedoch bekommen nur in etwa 7 % der Betroffenen auch eine Therapie. Warum?

Dr. Tsianakas: Patienten, die unter chronischem Juckreiz leiden, benötigen viel Zeit. Das kann man nicht in einer klassischen Routine-Sprechstunde abhandeln, denn dann fühlt der Patient sich zurecht nicht genügend angenommen. Auch bleibt manchmal für die notwendige Diagnostik nicht genügend Raum. Man muss eine Reihe an Fragen stellen, darauf achten, dass die Anam­nese richtig läuft, dass die tatsächliche Ursache herausgefunden wird. Spezialisierte Sprechstunden sind da Gold wert. Aber für die Kollegen, die sich speziell diesem Thema widmen und vielfach in der heutigen verdichteten Versorgung – gerade im niedergelassenen Bereich – feststecken, entsteht da ein riesiger Kostendruck. Viele können sich auch einfach nicht die Zeit nehmen. Daraus resultiert dann teilweise eine Mangelversorgung, gerade für solche komplizierten Krankheitsbilder mit vielfältigen Ursachen.

Wie lässt es sich erklären, dass es zwar viele Betroffene gibt, die ­Studienlage zu Pruritus oder zu chronischer Prurigo aber ­überschaubar ist?

Dr. Tsianakas: Über Jahrzehnte hatte man diese Erkrankung gar nicht so auf dem Radar, auch als eigene Diagnose. Man hat Prurigo teilweise angesehen als Symptomkomplex, als reaktives Pattern, aber nicht als eigene Erkrankung. Erst in den letzten Jahren gab es diesen Wandel, dass für die Prurigo auch eigene Therapien entwickelt werden. Wir haben mit dem Dupilumab überhaupt das erste Mal tatsächlich ein Präparat, das vom Label her für diese Erkrankung in Studien entwickelt und zugelassen wurde.

Was bedeutet die Vielzahl von Ursachen und nachfolgend Therapien für die Ärzte? Kann ein Nicht-Pruritus-Spezialist das überhaupt alles überblicken?

Dr. Tsianakas: An dieser Stelle geht ein großes Lob an die Leitlinien und deren Ersteller. Sie haben versucht, ein ganz klares Konzept he­rauszuarbeiten, sodass wir eben nicht unnötig den Patienten untersuchen müssen, sondern uns auf das Wesentliche konzentrieren können. Und dieses Basisprogramm der Diagnostik, das kann auch der niedergelassene Arzt durchlaufen. Wenn er dann nicht weiterkommt, dann gern Überweisung an eine Spezialabteilung. An sich ist der Boden bereitet, das muss man sagen. In den letzten Jahren ist viel passiert und auch viel Struktur erarbeitet worden.

Zum Abschluss noch ein Blick in die Zukunft: Welche Therapie­optionen werden sich Ihrer Meinung nach in zehn Jahren durchgesetzt ­haben? Und werden dann auch mehr ­Patienten ausschließlich aufgrund ihres chronischen Juckreizes in die Arztpraxen kommen?

Dr. Tsianakas: Es wird im Moment viel an antientzündlichen Ansätzen gearbeitet. Bei den Antihistaminika sehe ich momentan nicht die Prognose, dass dort welche entwickelt werden, die wirklich speziell bei chronischem Juckreiz noch gut wirken. Dupilumab ist ein Biologikum, das als Rezeptorblocker sehr gut in vielen Feldern funkti­oniert. Die Familie der JAK-Inhibitoren wird gerade entwickelt – eine bekannte Familie aus der Rheumatologie – und da finden aktuell auch die großen Studien statt.

Zudem gibt es weitere Biologika wie beispielsweise 31 Antikörperpräparate in der Forschung, die sehr gut antipruritisch wirken und sicherlich eines Tages kommen werden. Ich bin da frohen Mutes, dass wir eine wesentlich bessere Zukunft vor uns haben.

Lieber Herr Dr. Tsianakas, vielen Dank für das spannende Gespräch.

Interview: Merle Twesten. 

Mit freundlicher Genehmigung  des PsoNet-Magazins.

Regionale Psoriasisnetze in Deutschland (PsoNet)

Mehr Versorgungsqualität durch Vernetzung: Immer mehr regionale Psoriasis-Netzwerke schließen sich bundesweit mit Unterstützung von der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) und dem Berufsverband der Deutschen Dermatologen (BVDD) unter dem Namen PsoNet zusammen. 

In den regionalen Netzen arbeiten dermatologische Praxen und Kliniken bei der Behandlung der mittelschweren bis schweren Psoriasis zusammen. Das Netz steht allen Dermatologen und ihren Kooperationspartnern offen. Der kontinuierliche fachliche Austausch, die einheitliche Implementierung der S3-Leitlinie und ein kontinuierliches Qualitätsmanagement sichern eine Patientenversorgung auf höchstem medizinischem Niveau. 

Fachärzte für Dermatologie gründen regionale Psoriasisnetze eigenständig; sie verwalten und koordinieren Maßnahmen wie regionale Fortbildungs- und Informationsveranstaltungen. Für Gründung und Gestaltung der Praxisnetzwerke hat die Deutsche Dermatologische Akademie (DDA) in Zusammenarbeit mit dem Competenzzentrum Versorgungsforschung in der Dermatologie (CVderm) einen Katalog von Qualitätskriterien erarbeitet. Das CVderm unterstützt die beteiligten Praxen und Kliniken durch koordinierende, moderierende und evaluierende Maßnahmen auf regionaler und bundesweiter Ebene. 

Sind auch Sie interessiert? 
Informationen finden Sie hier: www.psonet.de 

Interessiert an neuen Fortbildungen oder Abrechnungstipps?

Abonnieren Sie unseren Infoletter.
 

Zur Infoletter-Anmeldung

x
Newsletter-Anmeldung