vasomed 1 | 2024

36. Jahrgang_1_2024 23 Kongress 30. Bonner Venentage // In den Jahren seit der Veröffentlichung der bisherigen S1-Leitlinie Lipödem hat sich nicht nur die Sichtweise auf diese Erkrankung verändert, auch die verfügbare Literatur hat beträchtlich an Umfang zugenommen. Ziel der Neubearbeitung war deshalb von Beginn an, eine S2k-Leitlinie zu schreiben. Die Ätiopathogenese und Pathophysiologie des Lipödems ist angesichts zahlreicher divergierender Befunde trotz der Vielzahl von rezenten Publikationen noch immer nicht vollständig geklärt, zahlreiche Aspekte und Parameter sollten deshalb weiterhin umfassender untersucht werden, um die wissenschaftliche Datenlage zu verbessern. Verändert haben sich im Vergleich zur alten Leitlinie eine Reihe von Aspekten, deren potenzielle Auswirkungen auf das therapeutische Vorgehen in der täglichen Praxis im Folgenden diskutiert werden. Schmerzhafte Erkrankung des Fettgewebes statt Ödemkrankheit Während in der alten Leitlinie dem Ödem und dessen Therapie noch eine vorrangige Bedeutung zugemessen wurde (1), steht in der neuen S2k-Leitlinie der Schmerz in Form von Druck- und Berührungsschmerz, Spontanschmerz und Schweregefühl im Vordergrund. Folgerichtig zielen sämtliche therapeutischen Maßnahmen auf die Reduktion des Schmerzes. Das Vorhandenseins eines Ödems wird, außer bei gleichzeitig vorhandenen Ödemen anderer Genese, z. B. einem sekundären Adipositas-assoziierten Ödem, abgelehnt. Allerdings finden sich in einer Reihe von auch im Kapitel Ätiopathogenese zitierten Publikationen durchaus Hinweise auf eine Zunahme der interstitiellen Flüssigkeit (2, 3). Das in der internationalen, v. a. US-amerikanischen Literatur häufig zu findende „non pitting oedema“ wird nicht übernommen. Diagnosestellung Die Fokussierung auf den Schmerz zieht sich wie ein roter Faden durch die Leitlinie, beginnend mit der Diagnosestellung, aber auch als Grundlage der Indikation für sämtliche konservativen und operativen Therapien. Aufgrund des Fehlens apparativer oder laborchemischer Parameter bleibt es deshalb bei der überragenden Bedeutung einer sorgfältigen klinischen Untersuchung, wobei das subjektive Schmerzerleben durch den Untersucher kaum objektivierbar ist. Noch nicht praxisreif, aber vielversprechend könnte hierfür die Verwendung von zwei Teiltests des QST-Protokolls der Deutschen Forschungsgemeinschaft sein, nämlich die Bewertung der Vibrationserkennungsschwelle und der Druckschmerzschwelle an der dorsalen Hand bzw. am lateralen Oberschenkel (kombinierter PVTH-Score, Spezifität 96,5 %) (4). Zur Erstdokumentation und Verlaufskontrolle sollen zumindest die biometrischen Werte Körpergewicht, Körpergröße sowie Taillen- und Hüftumfang erhoben werden. Der Body-Mass-Index (BMI) alleine ist bei Lipödem-Patientinnen nicht aussagekräftig, da er aufgrund der Fettgewebevermehrung an den Extremeitäten die Adipositas überschätzt. Eine genauere Aussage zur disproportionalen Fettverteilung ermöglicht die Kombination mit dem Verhältnis zwischen Bauchumfang und Größe (Waist-to-Height-Ratio (WHtR)) (5). Stadieneinteilung und Progression Die in der Literatur bisher gebräuchliche Stadieneinteilung der Morphologie taucht in der neuen Leitlinie nicht mehr auf. In der entsprechenden Empfehlung heißt es lediglich, dass diese nicht als Maß für die Schwere der Krankheit verwendet werden soll und dass eine Stadieneinteilung für die Beschwerden bisher nicht existiert. Insbesondere soll diese Stadieneinteilung nicht im Sinne einer grundsätzlichen Progression des Lipödems durch die Stadien verstanden werden. Im Gegenteil: Das Lipödem soll nicht als prinzipiell progrediente Erkrankung aufgefasst werden, da die Progredienz von verschiedenen Faktoren abhängig ist, zu denen neben einer Gewichtszunahme auch hormonelle Einflüsse zahlen, z. B. im Klimakterium. Die Schmerzsymptomatik korreliert nicht mit der Ausprägung der Disproportion bzw. der Zunahme des Unterhautfettgewebes: Patientinnen mit einem bisherigen Stadium 1 können einen höheren Schmerzscore aufweisen als solche im Stadium 3, bei denen in aller Regel eine zusätzliche Adipositas vorliegt, durch die dieses Stadium überhaupt erst erreicht wird. Sowohl die Disproportion bzw. die morphologische Ausprägung als auch die Schmerzsymptomatik können bei Gewichtsstabilität über viele Jahre oder dauerhaft stabil sein. Schmerzreduktion als primäres Therapieziel Im Vorfeld wurde von niedergelassenen Kollegen die Befürchtung geäußert, mit dem Wegfall der Stadieneinteilung verliere man den Kostenträgern gegenüber die Indikations- bzw. Argumentationsgrundlage für Verordnungen, z. B. von flachgestrickter Kompression. In der Leitlinie wird jedoch klargestellt, dass die Stadien eben nicht mit der Beschwerdeintensität korrelieren und deshalb die Indikationsstellung für jedwede therapeutische Maßnahme davon unabhängig sein muss, da die Therapie allein der Besserung der Beschwerden sowie hierdurch der Erhaltung oder Wiedererlangung von Mobilität, Funktionalität und Lebensqualität dienen soll. Dies gilt sowohl für die Kompressionstherapie, auch in Form der intermittierenden pneumatischen Kompression (IPK), als auch für die Physio- und nicht zuletzt auch für die Ernährungstherapie. Kompressionstherapie Die Kompressionstherapie bleibt die führende Säule der Lipödemtherapie. Dies zeigte sich auch darin, dass sämtliche Empfehlungen dazu mit starkem Konsens (100 %) verabschiedet wurden. Sie kann initial mit medizinischen Kompressionsstrümpfen (MKS), Kompressionsverbänden (KV) und medizinisch adaptiven Neue Leitlinie Lipödem: Gibt es Konsequenzen für die tägliche Praxis? G. Faerber, Zentrum für Gefäßmedizin, Hamburg

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=